Es ergibt alles keinen Sinn, wenn es nicht erzählt wird
Neun Frauen kommen zum Casting für die Rolle der Iphigenie. Gesucht werden junge syrische Laiendarstellerinnen mit Fluchterfahrung. Sie erzählen ihre persönliche Geschichte und interpretieren Iphigenie. diese wahre Entstehungsgeschichte des StückS von Mohammad Al Attar und Omar Abusaada bildet auch die BühnenHandlung, der wir Zuschauer im Hangar 5 beiwohnen.
Volksbuehne Berlin, ‘Iphigenie’, nach Motiven von Euripides von Mohammad Al Attar, Regie Omar Abusaada, Buehne & Kostueme Bissan Al-Charif, Video Reem Al Ghazi. Mit: Baian Aljeratly, Nour Bou Ghawi, Layla Shandi, Sajeda Altaia, Diana Kadah, Baian Aljeratly, Rahaf Salama, Hebatullah Alabdou, Zina Al Abdullah Alkafri. © Gianmarco Bresadola
Während des Castings beantworten die neun jungen Frauen die Fragen der Casting-Agentin, die selbst Syrerin ist. Worin sehen sie die Ähnlichkeit zwischen Iphigenie und sich selbst? Warum sollten sie die Rolle bekommen? Ablenkung, bezahlte Arbeit, etwas Neues probieren, von der Schule wegbleiben, eine Welt der Lüge und Beschönigung. Die Gründe sind so banal und alltäglich, wie man sie vielleicht nicht erwartet, wenn zur Zeit etwas unter dem Label Syrien oder Flucht läuft. Und dieser den ganzen Abend wiederkehrende Moment einer enttäuschten Erwartung von etwas Dramatischem ist der Kunstgriff des Stücks.
Iphigenie ist überall
Es wird keine Aufführung der Iphigenie geben. Nur einzelne Zitate aus dem Stück stehen als Leitmotive vor den Auftritten der Darstellerinnen. Wie riesige Schicksalssprüche schweben sie über ihren Köpfen auf der Leinwand und verflechten so die Dramatik der antiken Tragödie mit dem Alltag der Frauen. Iphigenie war vor eine Entscheidung gestellt, die sie nicht gewählt hatte: ihr Leben opfern für das Volk ihres Vaters und noch mehr Krieg und Tod bringen oder ihr eigenes Leben retten? Immer stehen die Darstellerinnen so vor einem monumental erscheinenden Dilemma. Doch statt sich als Opfer der Umstände zu begreifen und an der Vergangenheit haften zu bleiben, sehen sie nach vorne und auf sich selbst und finden abgeklärte Lösungen für Iphigenies Situation, ganz ohne Pathos.
Baian Aljeratly, Nour Bou Ghawi, Layla Shandi, Sajeda Altaia, Diana Kadah, Baian Aljeratly, Rahaf Salama, Hebatullah Alabdou, Zina Al Abdullah Alkafri. © Gianmarco Bresadola
Es wird auch keine Fluchtgeschichten geben an diesem Abend. Nur persönliche Wünsche, Träume, Unsicherheiten. So, wie jede junge Frau sie in sich trägt. Zweimal fällt das Wort „ersticken“ am Rande, einmal geht es um Selbstmord, nur einmal wird das Thema Bootsüberfahrt schnell und entnervt abgehandelt und die Begriffe Jobcenter und Ausländerbehörde fallen ebenso nebenbei, wie wir von den täglichen Einkäufen reden. In dem Nichtgesagten, Vergessenen, Unbenannten ahnt man die Schwere ihres unfreiwilligen Exils. Doch es bleibt ihre persönliche Geschichte und wird nicht zum Politikum für irgendeines der aktuellen ideologischen Lager.
Die Anderen sind meist genau wie wir
Die Stärke des Stücks liegt genau darin: es zeigt uns etwas, zu dem die Medienbilder und -geschichten nicht imstande sind. Es zeigt Alltäglichkeit, persönliche Befindlichkeiten, individuelle Vorstellungen vom guten Leben – ob Kopftuch oder Piercing, Kuss oder Keuschheit. Es macht neun individuelle Stimmen von syrischen Frauen hörbar, die trotz Flucht und Asylzwängen ihr Recht auf ein freies, selbstbestimmtes Leben nie in Frage stellen. Es gibt hier keine Opfer, Märtyrer oder Stellvertreter, weder Stereotypen der gut integrierten Musterschülerin noch der armen unselbstständigen Frau. Stattdessen haben sie alle Ideen, Wünsche, Hoffnung, gute und schlechte Tage, Tatendrang oder Langeweile und auch keine Antwort auf alle Fragen.
Das Ensemble. @ Gianmarco Bresadola
An einigen wenigen Stellen treten die Frauen zusammen als Chor auf und zitieren aus Iphigenie. Es sind Stellen, an denen das Schicksal über Iphigenie hereinbricht und sie als Spielball der Götter zeichnet. Doch genau gegen diese Lesart spielen die zehn Frauen an. „Es ergibt alles keinen Sinn, wenn es nicht erzählt wird“, sagt eine der Schauspielerinnen am Ende. Und meint damit vielleicht auch, dass jeder seine Geschichte nur selbst erzählen kann, wenn sie Sinn geben soll. Ein Plädoyer für Offenheit, für das Zuhören und für den Dialog – denn in der großen Erzählung der Welt finden wir Sinn wohl nur durch die Vielzahl der Stimmen.
„Trotz Alledem“ prangt zur Zeit als Banner über der Volksbühne und so könnte man auch das Motto dieser Frauen lesen. Trotz alledem, was die Geschicke der Weltpolitik ihnen an Entscheidungen aufgebürdet haben, lassen sie sich nicht festlegen und ihre Geschichte von niemandem anders darstellen als von sich selbst. Und die Kunst ist dabei eben ein Weg, dem Hässlichen der Welt zu entfliehen.
_____________________
VOLKSBÜHNE – Iphigenie
Mohammad Al Attar, Omar Abusaada
30.9.–3.10.17, 20 Uhr
Tempelhof Hangar 5
100 min
Tickets: 18/10 EUR
Arabisch mit deutschen und englischen Übertiteln
Immer mit Einführung 45 Minuten vor Vorstellungsbeginn, Publikumsgespräch am 01. und 03.10. nach der Vorstellung.
Zurück zum blog!