Im-Moment-Sein im Schnelldurchlauf
Tino Sehgal schafft Situationen, nicht Objekte – das sind seine Werke. Ohne Archiv, ohne Aufzeichnungen, ohne Überbleibsel und nur per mündlicher Vertragsabmachung schafft der gebürtige Londoner Live-Ereignisse als Installationen ohne Materialien – außer dem Material Mensch und seinem Publikum. Es sind Moment von inszenierter Spontaneität, bei denen es darum geht, eine Begegnung zu erleben, einem Geschehen beizuwohnen oder sich Überlegungen zu großen Themen wie Liebe, Sinn oder – wie in der aktuellen Berliner Ausstellung This Progress – dem Fortschritt zu machen. Im Rahmen des Festivals Foreign Affairs wird This Progress diese Woche im Haus der Berliner Festspiele gezeigt.
Tino Sehgal, Interpreten, London.
Das Werk hat Sehgal 2010 für das New Yorker Guggenheim Museum inszeniert. Die Besucher schritten damals an komplett leeren Museumswänden die Rotunde entlang aufwärts und wurden dabei von sich abwechselnden Menschen mit zunehmendem Alter in ein Gespräch über das Konzept Fortschritt verwickelt. Ähnlich wie in These associations, 2012 in der Londoner Tate Modern aufgeführt, geht es um die Begegnung des Zuschauers mit sich selbst und seinen Gedanken durch die Begegnung mit einem anderen, der uns unvorhergesehen im Gespräch in eine Intimität verwickelt.
Sehgal schafft darin alles das, was Kunst im Wesen ausmacht und was wir uns von ihr wünschen: überraschen, anregen, uns auf uns selbst zurückwerfen. Er hinterlässt Spuren, die zwar nicht sichtbar sind, uns aber zutiefst berühren und daher auch verändern können und im Gedächtnis bleiben. Das ist auf der sinnlichen Ebene absolut zugänglich, individuell und authentisch – da eine Kunst ohne Medium unmittelbar im, mit und durch den Teilnehmenden passiert.
Auf der analytischen Ebene ist es auch eine treffende Kritik und Hinterfragung des Zeitgeistes und unseres Lebensstils, denn so banal es erscheint: viele Menschen nehmen sich heute nicht mehr die Zeit für philosophische Spaziergänge oder sie kommen mit völlig Fremden einfach selten ins Gespräch über Gott und die Welt. Online findet jede Meinung ein Forum, doch in der leiblichen Begegnung mit jemand anderem, an der Bushaltestelle, im Cafe oder Park, da werden selten Meinungen ausgetauscht, Diskussionen angefangen und im Dialog mit dem anderen, die eigene Position hinterfragt und geschärft.
Tino Sehgal Ausstellung in der Guggenheim, New York. Foto: CC
Und zugleich trickst Sehgal mit seinem Ansatz auch die ganze Museumsbranche und Kunstindustrie etwas aus, da es weder Kunstobjekte gibt, mit denen zu absurd-immensen Summen spekuliert werden kann, noch der Ort Museum als Institution für den Erfolg der Aktionen relevant ist. In der Verbindung all dessen, an einem Ort wie dem Museum von fremden Einzelpersonen in einen persönlichen Meinungsaustausch verwickelt zu werden – darin liegt das zeitgenössische Genie von Sehgals arbeitet.
Doch was sich im Haus der Berliner Festspiele darbietet, ist leider nur die Kurzversion einer Begegnung. In wenigen Stationen, mit noch weniger Zeit für eine tiefer gehende Unterhaltung, wird man durch das Areal begleitet und ist schon wieder raus, bevor man gedanklich so richtig eingetaucht ist. Vielleicht ist es beabsichtigt nur kurze Anreize und Ideenskizzen zu entwerfen. Bloße Momente der spontanen Auseinandersetzung sozusagen. Für geübte Dialogpartner wird das etwas enttäuschend sein. Denn um das Potential einer solchen Kunst zu entfalten, müsste man sich eigentlich viel Zeit nehmen dürfen, um wirklich lange im Moment zu sein, um den Gedanken und Gefühlen Platz zu geben, umzudenken und sich freizumachen. Das Werk These associations war seinerzeit 10 Stunden täglich in der Tate in London zugänglich und entführte einen fast völlig aus Zeit und Raum. Aber vielleicht nimmt man sich diese Zeit dann einfach für Tino Sehgals große Werkschau im Martin-Gropius-Bau (28. Juni bis 8. August) und steckt This Progress als unterhaltsamen Kurzspaziergang nebenher ein.
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TINO SEHGAL This Progress
Ort: Haus der Berliner Festspiele
Termine: 25.6. bis 5.7.2015 (außer 29.06.), 17:00-21:00
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