AM ANFANG WAR DER KÖRPER
Nach der Weltpremiere im Juni wurde „Kreatur“, DIE NEUESTE BÜHNENARBEIT VON SASHA WALTZ, beim Festival TANZ IM AUGUST ERNEUT aufgeführt. IN DEM Stück ERKUNDET DIE Choreografin Urformen menschlichen Zusammenlebens und Archetypen sozialer Rollen. Und wieder einmal gelingt es Sasha Waltz: ihre Arbeit strotzt vor Poesie, Virtuosität und starken Bildern.
PROBEN ZU KREATUR IM RADIALSYSTEM V. © SEBASTIAN BOLESCH.
Die 14 Tänzer*innen schwirren im Raum wie Teilchen unterm Mikroskop – organisch aber abstrakt, fast unmenschlich wirken sie in ihrer fragilen Nacktheit hinter der durchsichtigen Fadenhülle. Sie verschmelzen, verknoten, vereinen sich, stehen einzeln, zu zweit oder zu dritt auf der Bühne herum. Eine zugleich transparente und reflektierende Folie flitzt mit einem Tänzer zwischen den Körpern hindurch, zieht sie optisch in die Länge oder Breite und blitzt auf wie ein Stromimpuls zwischen Elektroden.
Vom Einzelnen zur Gemeinschaft
Der Name des Stücks ist Programm. Die gleichsam futuristisch und archaisch anmutende Choreografie zeichnet ein Experimentierfeld zwischen Evolution und Gesellschaftsordnung. Die Körper erscheinen wie gerade aus dem Ei geschlüpfte Organismen ohne Bewusstsein. Zunächst entdecken sie sich und ihre Glieder, testen dann die ihre körperlichen Grenzen aus und probieren alle möglichen kollektiven Organisationsformen. Mitunter wirkt ihr Gebaren amüsant verspielt, dann eher grotesk entfremdet und im nächsten Moment gar düster-gewaltvoll.
PROBEN ZU KREATUR IM RADIALSYSTEM V. © SEBASTIAN BOLESCH.
Im nächsten Kapitel dieser Entwicklungsgeschichte sieht man die Körper eine Art rituellen Tanz vollführen. Ein Chor schwillt an, zunächst mit unverständlicher Fantasiesprache, schließlich vereinen sich die Stimmen auf Französisch und rufen: „Commençons la révolution contre les frontières géographiques. La vie est fantastique.” Lasst uns die Revolution gegen die geografischen Grenzen angehen. Das Leben ist fantastisch. Es wird die einzige verbale und konkrete Aussage an diesem Abend bleiben und die Bilder sind allein so stark, dass es sie gar nicht gebraucht hätte.
Konflikt und kollaboration
Durch ganz einfache Mittel werden originelle und sinnlich berührende Menschenskulpturen auf der Bühne geformt. Mit einem riesigen Holzpflock oder einem Treppenabsatz probieren diese Kreaturen aus, wie sie sich gegenseitig im Gleichgewicht halten können. Sofort springt eine endlose Assoziationskette auf, die vom Pfählen im Mittelalter über asiatische Kampfkünste bis hin zum absurden Theater eines Antonin Artaud oder gegenwärtige Internet-Gifs reicht. Auf einem schmalen Podest mit Steilwand erkunden die Tänzer, ob alle auf- und aneinander Halt finden, sodass keiner herunterfällt. Und bis zuletzt staunt man als Zuschauer nur, dass ihnen all die Übungen immer wieder gelingen.
PROBEN ZU KREATUR IM RADIALSYSTEM V. © SEBASTIAN BOLESCH.
Je länger das Stück dauert, umso mehr werden aus diesen seltsamen Wesen der Schöpfung selbst Schöpfer. Sie suchen nach Zärtlichkeit und Zusammenhalt, sie kopulieren und konkurrieren, es bildet sich eine Gemeinschaft neben einem Geächteten. Die Themen Vertrauen und Kontrolle, Macht und Ohnmacht schleichen sich als Motive in die Dynamik der zuckenden Körper. Auch der Krieg als Teil der Selbsterforschung dieser Geschöpfe schlummert immer nur eine Assoziation entfernt.
SPARSAME MITTEL, REICHLICH VIRTUOSITÄT
GIF FROM IHEARTBERLIN. © CLAUDIO.
„Kreatur“ ist eine Kollaboration zwischen Sasha Waltz und der Modedesignerin Iris van Herpen, dem Lichtdesigner Urs Schönebaum und dem Soundwalk Collective. Das schlichte Bühnenbild weist nur einen horizontalen Lichtstrahl auf dem schwarzen Bühnenprospekt auf, der sich vertikal verschiebt und Intensität, Breite und Farbtemperatur ändert. Zu diesem Bühnenbild hat das Soundwalk Collective eine sphärisch-düstere Klanglandschaft aus Bassfrequenzen, Elektroklängen und Beats komponiert. Mit den sphärischen Kostümen und Requisiten, die ebenfalls ganz auf Geräusche und Lichtreflektionen setzen, wird der Raum zwischen Publikum und Bühne zum Äther, in dem sich die Energie der Tänzer viszeral spürbar ausbreiten.
GIF FROM IHEARTBERLIN. © CLAUDIO.
Sasha Waltz & Guests gelingt es, mit dieser Sparsamkeit der Mittel und dank der gnadenlos präzisen Körperbeherrschung und unerschöpflichen Energie ihrer Kompagnie Bilder zu formen, die von Schmerz und Schönheit, Fleischlichkeit und Fremdartigkeit aber auch von Pathos und Poesie überquellen. Es ist eine Reise zu den Urinstinkten, Grundgefühlen und körperlichen Extremen menschlichen Lebens. Man ist nach so einer Vorstellung immer ein bisschen ohne Worte, aber zutiefst berührt.
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KREATUR von Sasha Waltz & Guests bei Tanz im August
Am 22., 23., 24. August im Haus der Berliner Festspiele
Nächste Aufführungen:
Aalto-Theater, Essen 15. März 2018
Megaron Mousikis, Athen 23.–24. März 2018
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