2011-02-19
The King Of Limbs ist die akustische Entsprechung zur postmodernen Literatur, im Kleid der von jeder Verantwortung befreiten sechsten Kunst – Lyrik und Epik fließen nahtlos ineinander oder ergänzen sich spielerisch, Traum und Realität lassen sich nicht scheiden, Symbole halten das Gefüge aus wechselnden Point-of-Views zusammen und an der Subjekt-Objekt-Spaltung des Autors (der Autoren im Falle von RADIOHEAD) und des Werks bricht sich das Universum in seiner Selbstbespiegelung.
Während In Rainbows (CD-Kritik) dem Hörer über die Gehörgänge noch eindeutig eine Perspektive aufzwang, nämlich jene des auf den Pilotensitz geworfenen, in den Tonspurtunnel geschossenen Ichs, vollführt The King of Limbs kunstvoll eine Distanzierung, die eine Metaebene aufzeigt, welche sich zu beidem hin öffnet: den eigenen Bildern und der Beobachtung dieser Vision. Obwohl Thom Yorkes Texte Selbstoffenbarung im Äußersten betreiben, schützt die meterdicke Glasscheibe zwischen Wachen und Schlafen vor jeder Verschmelzung der Fiktionen: auf der einen Seite träumt einer und singt davon, auf der anderen hört einer und träumt trotzdem seinen eigenen Wahn weiter.
Während die Vorgängeralben, einzigartig in ihrem jeweils zentralen Motiv, Thema, Korpus, Darstellungen dieser Auseinandersetzung mit dem Anderen im Ich waren, hat man bei The King of Limbs das Gefühl, RADIOHEAD dabei zuzuhören, wie sie sich selbst zuhören. Sie setzen vielmehr auseinander und klingen dabei, als ob sie immer ein Stück selbst verwundert sind über das, was sie mittlerweile durch alle Soundentwicklungen und Experimente hindurch ganz unverkennbar zu ihrer Tonschrift gebracht hat und ihnen etwas über sich selbst verrät. Wo man dieses Album am besten hört, bleibt ebenso jedem selbst überlassen herauszufinden, wie die Anzahl der Durchgänge und Proben, die man dafür brauchen wird. Das ist die vielleicht einzige „Botschaft“ dieses Albums: entdecke Dich selbst. RADIOHEAD liefern dazu dezent und unaufdringlich den Soundtrack. Deshalb dürfen hier auch keine konkreten Assoziationen oder persönlichen Favorisierungen preisgegeben werden, sondern jedes sprechen „über“ muss ein In-der-Form-des-Abstrakten-Schreiben bleiben, damit das nur Bezeichnete unvoreingenommen beschriftet und gefüllt werden kann. Und manche Bilder sind ohnehin am schönsten, wenn man sie für sich selbst bewahrt. Würde dies nicht wie Hohn klingen, man könnte schreiben, RADIOHEAD hätten sich (noch) weiter entwickelt.
Unverkennbar die Einflüsse, die sich aus Johnny Greenwoods Schaffen im Bereich der Filmmusik in sein Sampling einprogrammiert haben. Unverkennbar die mysteriösen Inspirationen, die Thom Yorke auf seinen einzelgängerischen Pfaden seit Eraser unentwegt aufliest und traumversunken ausspuckt. Unverkennbar die Verliebtheit von Colin Greenwoods Bassspiel in den „Basement“-Sound ihres Tonstudios/Proberaums. Unverkennbar wie Ed O’Brien so wundervoll unauffällig durch seine zweite Gitarre und Backgroundvocals die Dichte in den Klangteppich fügt, der aus den einzelnen Soundfäden erst den Kashmir in seiner Komplexität erkennbar werden lässt. Unverkennbar die fast autistische Präzision und der Perfektionismus mit dem Phil Selway sein Schlagzeugspiel immer weiter reduziert und zurücknimmt, um dadurch unbemerkt, wie durch eine verspiegelte Hintertüre, die jedoch eigentlich als Portiere einer Drehbühne fungiert, umso treibender vor allen Instrumenten wieder in den Vordergrund zu treten vermag. Unverkennbar das Meisterwerk an Produktion, das Nigel Godrich aus dem Kunstwerk der Musik zu machen versteht.
Der RADIOHEADsche Perfektionismus noch ein Stück weiter getrieben: die Verquickung aus White Cube im Sound der Instrumente und Abmischung sowie Vollendung der elektronisierten Schallwellen mit dem Schwarzen Quadrat von Thom Yorkes hypnotisierendem Gesang und der Endgültigkeit und Absolutheit von Melodie, Rhythmus und Struktur. Keiner wird all dies beim ersten Mal hören. Diese Rezension entstand erst nach dem zweiten Durchlauf. Ihre Gültigkeit wird sich mit zunehmendem Maße entwickeln und wohl erst nach dem siebten Mal als Wahrheit offenbaren.
(Diese Rezension erschien zuerst auf Popmonitor.berlin.)
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RADIOHEAD – The King Of Limbs
(XL/www.thekingoflimbs.com)
VÖ: 19.02.2011
www.radiohead.com
www.myspace.com/radiohead
www.xlrecordings.com
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