A different kind of time keeping
Im Rahmen des X-Jazz-Festivals spielte das Duo Moses Boyd & Binker Golding in der Kantine am Berghain. Mit atemberaubender Technik, unerschöpflicher Improvisationskunst und einem modernen Stilmix beeindruckten sie das Berliner Publikum und tragen den Jazz der britischen Hauptstadt in die Metropole der elektronischen Musik.
Nicht zufällig trägt Binker Golding an diesem Abend ein T-Shirt mit dem Porträt von Karlheinz Stockhausen. „I thought I was out there,“ sagt Binker Golding später, „until I heard Stockhausen. Man! HE’S really out there!” Wie sein Vorbild in der Komposition, sucht er auf seinem Tenor-Saxofon die Grenzen von Harmonien, Klangfarben und Rhythmik zu erkunden. Über Minuten verliert er sich mit geschlossenen, nach oben verdrehten Augen im Freestyle, der ihn von dissonant pfeifenden Tönen über expressiv-perkussive Atemfiguren zu wild dahinpeitschenden Melodien führt.
Talentschmiede London
Mit welcher Leichtigkeit und Präzision Moses Boyd dazu die komplexesten Rhythmen hinzaubert, lässt einen sprachlos zurück. Er schüttelt sie im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Handgelenk, denn nicht einmal seine Armmuskeln scheinen sich zu bewegen. Mit unfassbarem Tempo und nuancierter Dynamik verteilt er mit allen vier Gliedmaßen polyrhythmische Schläge auf dem Drum-Set – mal gerade, mal ungerade, mal triolisch, mal Half-Time, mal Shuffle, in jedem Fall aber immer auf den Punkt und in blinder Abstimmung mit Binkers Soli.
Moses Boyd ist in der Londoner Jazz-Szene schon seit vielen Jahren als Ausnahmetalent bekannt und wurde aufgrund seiner exzellenten Technik und Präzision bereits als neuer Art Blakey bezeichnet. Er hat eine Masterclass mit Afrobeat-Legende Tony Allen gehalten, gibt laufend Drum-Clinics und Interviews und komponiert nebenher für seine andere Band Exodus – und das alles mit nur 25 Jahren. Wie viele andere Jazz-Musiker*innen aus London kommt er aus der bekannten Talentschmiede Tomorrow’s Warriors. Unter der Federführung von Jazz-Größen wie dem Bassisten Gary Crosby lernen, proben und spielen junge Musiker*innen im Rahmen dieses Ausbildungsprogramms regelmäßig gemeinsam – kein Wunder, dass viele der hier ausgebildeten Jazzer*innen heute weit über die Stadt hinaus bekannt sind.
Speerspitze einer neuen Generation
Im Jahr 2015 gewannen Binker & Moses den MOBO-Award, 2016 räumten sie gar drei Preise ab: „Breakthrough act of the year“ und „Best U.K Jazz act“ bei den Jazz FM Awards sowie „Best Newcomer“ bei den Parliamentary Jazz Awards. Sie sind Teil einer Szene, die seit einigen Jahren als Hort des neuen UK-Jazz gefeiert wird. Die Musiker*innen kommen größtenteils aus Süd-London, dem Epizentrum dieser Musikergemeinschaft, mischen klassische Jazz-Elemente mit traditionellen Rhythmen und Harmonien aus Afrika und der Karibik, aber auch mit Hip-Hop, Electronica und Fusion. Aus den gemeinsamen stilistischen Einflüssen, dem Alltag der Großstadt und jahrelangem gemeinsamen Jammen hat sich ein für die Stadt typischer Sound entwickelt, der zu Recht gerade die Welt erobert.
Für eine Übersicht einiger Künstler*innen dieser Szene, empfehle ich folgende Artikel:
„UK Jazz Is Killing It Right Now” von Robin Murray.
„A Guide to U.K. Jazz in 2017” von bandcampDaily.
UPDATE 2018
Mittlerweile ist die UK-Jazzszene noch bekannter geworden und es gibt weitere Artikel:
„The* (new**) UK* Jazz Family Tree“ von Kimberly Crofts.
„The British jazz explosion: meet the musicians rewriting the rulebook“ von Kate Hutchinson.
„Gilles Peterson presents new generation of UK jazz on We Out Here“ von Mike Flynn.
Binker & Moses – Journey to The Mountain of Forever
www.binkergolding.com
www.mosesboyd.co.uk
Exodus by Moses Boyd