Artikel von Julia Schell zur Dokumentation der ResiliArt Online-Debatte zu „Perspektiven für eine vielfältige Kulturlandschaft und nachhaltige Kulturpolitik in Städten und Kommunen“ vom 4. November 2020.

Von der Symptombekämpfung zur Ursachenbehandlung

Seit März 2020 erleben wir eine Pandemie, sind Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft im dauerhaften Ausnahmezustand. Die besonders betroffenen Kulturschaffenden, -einrichtungen und Veranstaltungshäuser haben schnell reagiert und aufwendige Hygienekonzepte entwickelt, Veranstaltungen ins Freie verlegt und digitale Formate entwickelt. Doch nun stehen sie einem zweiten Lockdown, dem langen Winter und der Gewissheit gegenüber, dass die langfristigen Folgen noch bevorstehen.

Um die Auswirkungen der Pandemie auf den Kultursektor sowie Lösungsansätze auf dem Weg aus der Covid-19-Krise zu diskutieren, hat die UNESCO die globale Online-Reihe „ResiliArt“ ins Leben gerufen. Sie dient dem Austausch von Best-Practice-Beispielen und Lösungsansätzen, um Strategien zur Stärkung einer diversen Kulturlandschaft zu erarbeiten – denn diese zu schützen und zu fördern, ist eine der Aufgaben der UNESCO.

Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Blick auf die Lage der kulturellen Infrastruktur in Städten und Kommunen. Am 4. November 2020 diskutierten Fachleute aus der kommunalen Kulturpolitik daher im Rahmen von „ResiliArt“ unter dem Titel „Perspektiven für eine vielfältige Kulturlandschaft und nachhaltige Kulturpolitik in Städten und Kommunen“. Die Kooperation zwischen der Deutschen UNESCO-Kommission und Kulturpolitischer Gesellschaft e.V. mit Unterstützung der Deutschen UNESCO Creative Cities hat aufgezeigt, was in dieser Krise bisher gut gelaufen ist, was (noch) fehlt und welche langfristigen Perspektiven es gibt.

Best-Practices und Herausforderungen kommunaler Kulturpolitik in der Krise

In einem sind sich alle einig: die sonst eher für ihre Trägheit gerühmte deutsche Verwaltung hat in der Corona-Krise überaus schnell und flexibel reagiert. Haushaltsmittel wurden umgewidmet, Verwendungszwecke aufgeweicht und neue Förderprogramme für die Künste geschaffen. So konnten Kulturverwaltungen trotz Veranstaltungsabsagen Honorare auszahlen, Mittel für das Abfilmen von analogen Werken zur Verfügung stellen und virtuelle Projekte fördern.

Am besten hat dies dort funktioniert, wo Verwaltungen im engen Austausch mit Intendanzen und Verbänden aus Freier Szene, Clubkultur und Kreativwirtschaft standen, wovon Belit Onay, Oberbürgermeister von Hannover, beispielhaft berichtete. So hat die UNESCO Creative City of Music Hannover lokale Musikschaffende mit Werken für einen digitalen Corona- Stream beauftragt und sie gemeinsam mit 46 anderen Cities of Music während der Krise unterstützt.

Die Bedeutung einer vielfältigen Kulturlandschaft auf kommunaler Ebene

Kultur ist nicht nur ein Wirtschaftszweig oder als Image-Faktor für den Tourismus relevant. Sie generiert auch einen immateriellen Wert, oder mit den Worten der Präsidentin der Deutschen UNESCO Kommission e.V.: „Sie ist Teil der DNA von Stadtentwicklung und Zusammenhalt“. Die Vielfältigkeit unserer Kulturlandschaften stellt sicher, dass Menschen mit unterschiedlicher Kaufkraft sich Angebote leisten können und ermöglicht so einer breiten Stadtgesellschaft die kulturelle Teilhabe.

Wer neben Museen, Konzerten und Galerien auch an Gedenkstätten, Bildungsorte und Räume der Soziokultur denkt, wird erkennen müssen, dass Kultur für unsere Demokratie elementar ist. Dass Kultureinrichtungen im Infektionsschutzgesetz zunächst unter Freizeitgestaltung gefasst wurden, hat bei vielen Kulturinteressierten daher für Unmut gesorgt und zeigt, dass der Stellenwert von Kunst und Kultur für eine plurale Demokratie in der öffentlichen Debatte mitunter (noch) verkannt wird.

Diversitätsstrategien statt Elitenförderung

Mehr denn je ist das Thema Diversität hierbei entscheidend. Denn wenn die gesamte Gesellschaft den Wert von Kultur schätzen können soll, dann müssen Kulturorte auch Räume sein, in denen sich die gesamte Gesellschaft spiegeln kann. Sie müssen Orte sein, an denen sich unterschiedliche Milieus und kulturelle Prägungen begegnen, bedienen und begeistern können – und zwar in der Belegschaft der Einrichtungen ebenso wie im Publikum.

Auf Bundesebene wurde hierzu vor einigen Jahren der Fonds 360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft aufgelegt. Dessen Ziel ist, dass Kulturinstitutionen und ihr Publikum so vielfältig werden, wie die Stadtgesellschaft, für die sie ihr Programm gestalten. Damit dies gelingt, muss insbesondere Vertrauen in den unterschiedlichen sozialen Gruppen einer Gemeinde aufgebaut werden, beispielsweise bei migrantischen Selbstorganisationen und Behinderten-Verbänden.

Doch auch hier hat die Pandemie sichtbare Auswirkungen, denn eine vertrauensbildende Kommunikation ist digital nur schwer aufrechtzuerhalten, zumal auch das Digitale nicht barrierefrei zugänglich ist. Weltweit ist die Situation hier von starken Ungleichheiten geprägt und auch in Deutschland haben nicht alle Haushalte ausreichend stabiles Internet. Kultureinrichtungen müssen daher proaktiv dafür sorgen, dass nun nicht jene Menschen außen vor bleiben, die schon vor der Krise strukturell ausgeschlossen wurden.

Netzwerke und Solidarität in und zwischen Städten

Kulturorte sind Orte der Begegnung und des Miteinanders, an denen Menschen sich gemeinsam freuen oder ärgern und so ins Gespräch kommen. Doch aktuell bricht dieser wichtige Bezugsrahmen für Meinungsaustausch, Dialog und Aufklärung weg. Wer sich nur in seiner Peer-Group oder Filterblase auf dem Bildschirm austauscht, trifft selten auf andere Sichtweisen – Isolation begünstigt so die Polarisierung unserer Gesellschaft.

Umso wichtiger war die Welle der Solidarität zwischen Kultureinrichtungen, Kunstschaffenden, Medien und Verwaltung nach dem ersten Lockdown. Das UNESCO Creative-Cities-Netzwerk (UCCN) konnte hier einen besonderen Beitrag leisten: In den weltweit 246 Städten des Netzwerks, davon 6 in Deutschland, unterstützt das Programm während der Krise künstlerische Initiativen im Digitalen sowie Open-Air. Die UNESCO Creative City of Design Berlin stellte im Rahmen der Berliner Kulturpolitik „Kultur trotz(t) Corona“ Unterstützungsprogramme zur Verfügung. In Heidelberg fördert die UNESCO Creative City of Literature ein multimediales Tage- und Skizzenbuch von lokalen Literaturschaffenden.

Die Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf konnte mit Unterstützung der UNESCO Creative City of Film Potsdam sogar den gesamten Lehrbetrieb unter Hygiene-Vorgaben aufrechterhalten. Seminare wurden ins Virtuelle verlegt und praktische Übungsräume durch Abstandskonzepte offengehalten. Statt in Dienstreisen wurde in die Ausstattung der digitalen Lehre investiert und Sozialfonds halfen Studierenden ohne Rücklagen, das Semester ohne Nebenjob weiter bestreiten zu können.

Digitale Kulturangebote zwischen Notlösung und visionärer Kunst

Auf die Schnelle wurden im Frühjahr auch kostenlose digitale Streaming- Plattformen wie „kultur(b)digital“ in Berlin, „SPECTYOU“ in Köln oder „#bremenist“ in Bremen aufgesetzt. Diese bieten zwar einem größeren und diverseren Publikum Zugang zu Kultur, doch leider können digitale Angebote die finanziellen Ausfälle für den Live-Betrieb aufgrund mangelnder Bezahlmodelle sowie der „Umsonstkultur“ im Netz nicht ersetzen. Hier braucht es dringend rentable Modelle, um die Vielfalt der Kulturlandschaft virtuell sichtbar zu machen.

So fand das internationale Dokumentar- und Animationsfilmfestival DOK Leipzig komplett hybrid statt, also digital und analog zugleich. Für das Streaming konnten Online-Tickets gekauft und über PayPal bezahlt werden. Und die Kulturstiftung des Bundes bietet Kulturinstitutionen im Rahmen von „Dive In“ Gelder, um digitale Projekte in der Kunst- und Kulturvermittlung zu entwickeln. Hier können spannende neue Kunstformen entstehen, die nicht auf analoge Traditionen wie die Einheit von Bühne und Publikum angewiesen sind.

Wo es um analoge Kunstformen geht, wie beispielsweise improvisierte Live- Musik, bietet das reine Abfilmen von Veranstaltungen leider nur sehr bedingt einen künstlerischen und sozialen Mehrwert und kann nur eine Notlösung sein. Damit Kunstschaffende die Möglichkeiten des Netzes aber ernsthaft erforschen und visionäre Kunst entwickeln können, müssen die Förderprogramme für digitale Kunst, Recherche und Forschung flächendeckend und nachhaltig ausgebaut werden.

Die Kunst muss sich den öffentlichen Raum erschließen

Wenn Orte der Begegnung für die analoge Kultur unverzichtbar sind, dann muss der öffentliche Stadtraum auch für sie verfügbar sein – sei es in Form von beweglichen Bühnen oder nomadischen Projekten. Im Rahmen desMedienkunstfestivals „Seasons of Media Arts“ in der UNESCO City of Media Arts Karlsruhe beispielsweise wird seit September und noch bis Ende Dezember digitale, interaktive und virtuelle Kunst im öffentlichen Raum gezeigt.

Einer der Beteiligten ist der Medienkünstler Jonas Denzel, der mithilfe einer Förderung sein Projekt „beambike“ im Sommer auf ein neues Level bringen konnte. Im Online-Talk erzählt er, wie er auf die Idee kam, ein Lastenfahrrad zum mobilen Projektor umzubauen, mit dem er Videokunst und Lichtinstallationen auf Gebäudefassaden wirft und öffentliche Orte so abends belebt.

Um die Kulturlandschaft resilienter gegenüber Schließungen zu machen, müssen Strategien für Kulturangebote draußen auch auf politischer Ebene in den Blick genommen werden. Kommunale Kulturpolitik ist hier untrennbar mit Stadtentwicklungspolitik verwoben und muss sich zum Ziel setzen, öffentlichen Raum für gemeinwohlorientierte Zwecke zu sichern. Dies bedeutet, dass nicht der gesamte öffentliche Raum privatisiert werden darf.

Die Infrastruktur des Kulturbereichs bröckelt gefährlich

Während öffentlich geförderte Institutionen und ihre Angestellten die Schließzeiten dank fixer Budgets und Kurzarbeitergeld überstehen werden, fürchten freie Kunst- und Kulturschaffende um ihre berufliche Existenz. Sie fordern daher eine angemessene Entschädigung für Unternehmen und Soloselbstständige, die wenig Betriebskosten haben, aber ihren Lebensunterhalt bereits seit März ohne Einnahmen bestreiten müssen.

Doch wenn nach der Krise noch eine vielfältige Freie Szene vorhanden sein soll, müssen die kurzfristigen Hilfsmaßnahmen dringend um langfristige Strukturmaßnahmen ergänzt werden, die prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen in der Branche beenden. Hier kämpft die lokale Szene nach wie vor um mehr Sichtbarkeit und Gehör auf allen politischen Ebenen und auch die Kommunen sollten Ideen zu neuen nachhaltigen Fördermodellen in den Diskurs einbringen.

Wir müssen die Kulturstädte von morgen gestalten

Zum Abschluss der Debatte wird nochmals klar: Je nach Grad der Betroffenheit gibt es sehr unterschiedliche Perspektiven auf diese Krise. Teile der Kulturbranche fürchten als verzichtbar zu gelten. Sie treibt die Angst um, dass unsere Gesellschaft und unser Wertesystem durch einen Filter namens „systemrelevant“ gepresst werden und dabei aus dem Blick gerät, dass ein soziales System nicht nur von seiner Ökonomie am Leben erhalten wird.

Andererseits war in den letzten Monaten im Krisenmodus vieles umsetzbar, das zuvor als unmöglich behauptet wurde. Es besteht daher berechtige Hoffnung, dass etwas von dieser neuen Denkweise und Flexibilität bleiben wird. Denn Resilienz und Vielfalt vertragen kein Spardiktat. Daher sollten alle kulturpolitisch Verantwortlichen sich über Konzepte und Strategien für einen Strukturwandel unserer Kulturlandschaft(en) Gedanken machen und Bündnisse mit den Betroffenen schmieden.

Sonst werden wir bald überall einen Hinweis lesen, mit dem der Slam Poet und Autor Philipp Herold aus der UNECSO Creative City of Literature Heidelberg die aktuelle Lage in seinem Corona-Tagebuch poetisch auf den Punkt bringt:

„Dieses Gedicht ist aufgrund der 
aktuellen kulturellen Schieflage
in ihrem Land nicht verfügbar“

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf: unesco.de.

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