POESIE DES URBANEN SYMBOLISMUS
Er war ein begnadeter Zeichner und Maler. Er hatte Charisma und Charme. Er durchschaute die Kunstwelt und seine Gesellschaft genau. Und er wusste, wie er sich in dem System, das er kritisierte, eine integre Bildsprache schaffen konnte, um seine Realitätserfahrung darzustellen, ohne Weiße vor den Kopf zu stoßen. Jean-Michel Basquiat war ein Alleskönner und Poet, der mit Buchstaben und Bildern seine Zeit portraitierte. Die umfassende Ausstellung BOOM FOR REAL IN der SCHIRN-Kunsthalle folgt ihm dramaturgisch auf den Schritten seines kurzen künstlerischen Lebens.
Eine Autobahn an Assoziationen
Jean-Michel Basquiat war ein aufmerksamer, belesener und rasend schneller Beobachter von New York in den 1970ern und 80ern. Politische Anerkennungskämpfe, Popkultur und Kritik an der Konsumgesellschaft sind zentrale Themen in seinen Werken. Auch erforscht er die Kunstgeschichte, stellt Verbindungen zwischen antiken Kulturen und modernen Machtbeziehungen her und reflektiert immer wieder die eigene Rolle als schwarzer Künstler in einem Betrieb, der Individualität und Anderssein zu kommerzialisieren sucht. Die Leinwand diente ihm dazu, die Autobahn der Assoziationen in seinem Kopf in schnellen Strichen einzufangen.
Dabei gelang es Basquiat mit der geschickten Wahl und Collage seiner Symbole, Worte und Motive, eine immense Fülle sowohl eindeutiger Referenzen als auch offener Assoziationen in einen Dialog zu bringen. Aus unzähligen historischen, literarischen, künstlerischen Dokumenten und zeitgenössischen Einflüssen komponiert er malerische Mindmaps, in denen er die Gesellschaftsstruktur im Wechselspiel von Geschichte, Politik und Alltagskultur zu erfassen sucht. Seine rhythmisch und spontan gesetzten Farben und Linien sind dabei beides zugleich: ästhetisch ansprechende Objekte und subtile Gedankengebäude. Kein Wunder also, dass seine Kunst sowohl Kenner*innen gefällt und Millionenpreise erzielt, als auch im Mainstream geschätzt wird.
In sechs thematischen Kapiteln folgt die Ausstellung – eine Koproduktion des Barbican Centre in London und der SCHIRN Kunsthalle Frankfurt – der künstlerischen Entwicklung von Basquiat. Neben den Bildern und Zeichnungen ergänzen Notizbücher, Readymades, DIY-Postkarten, vorgelesene Texte und Videos die Ausstellung und fangen so die Bandbreite seines künstlerischen Schaffens ein. Durch die Gegenüberstellung seiner Werke mit Büchern, Alltagsmaterialien und Fotografien seiner Zeit entschlüsseln sich viele der Referenzen in seiner zugleich dokumentarischen und performativen Bildsprache.
The Medium is the Message
Früh beginnt Basquiat mit Graffitis auf sich aufmerksam zu machen, die er mit seinem Freund Al Diaz unter dem Künstlerpseudonym SAMO© an New Yorker Wände sprüht. Darin bringen sie Systemkritik und selbstreflexive Ironie in der größtmöglichen Kürze auf den Punkt. Die Sätze nehmen zweifelsfrei die unpolitische Konsumhaltung reicher Yuppies auf die Schippe. Indem ein Copyright-Symbol hinter das Akronym für „SAMe Old Shit“ gesetzt wird, gibt sich die Kritik als urheberrechtsgeschützter Kommerz und ist am Ende wieder cool. Die Einverleibung von Widerstand durch den Kapitalismus wird hier exemplarisch vor Augen geführt.
SCHWARZE HAUT, WEIßE MASKEN
Basquiat liebt und hört Jazz. Die Improvisationslogik der Musik untermalt den seelischen Blues seiner Bilder. Die Bedeutung des Jazz als gesellschaftlich anerkannte Ausdrucksform von Individualität, Begabung und Virtuosität für schwarze Menschen beschäftigt ihn. Denn auch er kämpft damit, den kollektiven Fantasien und Vorurteilen der weißen Gesellschaft zu entfliehen und ihnen eine individuelle Identität entgegenzusetzen. Gleichzeitig ist er als Künstler von der Anerkennung einer weißen Kunstszene abhängig, die das Talent schwarzer Menschen genießen, aber nichts von ihren Problemen und Forderungen hören möchte. Wie viel Kompromiss ist nötig, möglich und wünschenswert, bevor man sich selbst verleugnet?
Unaufhörlich kritisiert Basquiat den Rassismus, ohne ihn je beim Namen zu nennen. Er setzt Stereotype schwarzer Menschen und positive Symbole, wie beispielweise seine berühmte Krone, mit eindeutigen Verweisen auf das Weißsein in Beziehungen. Dafür nutzt er oft schlicht die Farben Schwarz und Weiß. Auch was heute unter dem Hashtag #BlackExcellence auf Twitter und Instagram gepostet wird, nimmt Basquiat quasi vorweg: den Hinweis auf die herausragenden Leistungen schwarzer Menschen, die doppelt so gut sein müssen wie Weiße, um zumindest die halbe Anerkennung zu bekommen. So huldigt er in seinen Bildern neben Jazzgiganten wie Charlie Parker, Miles Davis, Louis Armstrong auch Sport-Ikonen wie Jesse Owens, Tommie Smith und John Carlos.
Soziologie der amerikanischen Großstadt
Basquiat verarbeitet nebem den Gesellschaftsalltag auch die technischen Errungenschaften seiner Zeit intuitiv immer im größeren historischen Zusammenhang. Er bedient sich bei Fernsehen, Comics, Modemagazinen und Literatur zugleich. Dadurch erscheint seine eigentümliche Mischung aus Begriffen, Zeichnungen und Werkstoffen wie eine Kartografie der urbanen Moderne. Die Macht des Wortes wird durch bewusste Falschschreibungen poetisch hinterfragt, traditionelle Hierarchien von Kunst-Genres werden verkehrt. Farbe und Zeichnung wirken figurativ und abstrakt zugleich. Cut-up, Looping, Copy & Paste, Xerox-Kunst, Spoken Word, Spraypaint – Basquiat experimentiert mit allen Techniken und Trends der Popkultur und Clubszene seiner Zeit.
Zudem studiert er die seinerzeit in intellektuellen Kreisen angesagte Semiotik und taucht ein in die Symbolik verschiedener Völker und seiner Stadtumgebung. Clever kombiniert er mythologische Referenzen mit modernen Charakteren und präsentiert dem Betrachter damit mögliche neue Archetypen. Zum Beispiel verquickt er Symbole antiker afrikanischer Hochkulturen und Motive aus der Bibel mit den wissenschaftlichen Dogmen der Renaissance und modernen Schlagwörtern. Damit ist ein Bogen von der Geschichtsschreibung über die kulturelle Aneignung bis hin zur Geschichtsvergessenheit der europäischen Gegenwart gezogen. Mal kritzelt er seine Analyse mit ironisch-distanzierter Verachtung, mal schleudert er die Wut, Verzweiflung und Ohnmacht geradezu auf die Leinwand.
Dichtend zur Musik philosophieren
Basquiats Werke sind sinnliche Denkanstöße. Er erklärt so wenig möglich, aber so viel wie nötig, damit die Betrachter*innen Zusammenhänge herstellen. Mit diesem Feingefühl gelingt es dem Autodidakten, große Kunst zu schaffen: eine, die ästhetisch besticht und zugleich ein tiefgründiges Zeitdokument ist, das über ein einzelnes Künstlerego hinausweist. Basquiat bietet uns eine Perspektive, die auch heute noch zu den Betrachter*innen spricht, weil seine Arbeiten unzählige Fragen aufwerfen, ohne eindeutige Antworten zu liefern. Und, weil sie die Allgegenwart des historischen Erbes in unserem Alltag vor Augen führen und damit auch die Verstrickung jedes Einzelnen in das Netz der Realitätsproduktion. Wohl auch deshalb schuf Basquiat rastlos ein Bild nach dem anderen, um der gewaltvollen Realität seine eigene Informationsflut entgegenzusetzen.
BOOM FOR REAL: JEAN-MICHEL BASQUIAT
SCHIRN Kunsthalle | 12.2.–28.5. (Tours in English available)
14 EUR / 7 EUR // Katalog: 49,95 EUR (erschienen bei Prestel Verlag)
Im DIGITORIAL zur Ausstellung kann man sich vorab einen guten Eindruck verschaffen.